Vortrag - Gottes Herzschlag entdecken

Kirche? Eintritt? Warum - mir fehlt nichts!

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Im November 2011 traf sich die EKD-Synode in Magdeburg unter dem Thema: Was hindert’s, dass ich Christ werde? – damit zum zweiten Mal nach 1999 zum Thema »Mission«. Im Plenum gab es Kurzstatements auch von Nicht-Christen wie Pavel Richter, Geschäftsführer der deutschen Wikimedia. – Er erzählte vom Onkel, der Theologieprofessor in Tübingen ist, erzählte vom besten Freund, der ihn nicht als Paten wählte, weil der keinen Geschenkespender suchte, sondern einen Paten zur Begleitung im christlichen Glauben, erzählte von bewegenden Gottesdiensten im Berliner Dom. – Die Frage nach dem Christwerden? Die kommt in seinem Alltag gar nicht mehr vor, und er vermisst sie auch nicht. Irgendwie versteht er sich – ungetauft und kein Kirchenmitglied – dennoch als Christ. Und dann veränderte er die Frage und gab sie zurück an uns Delegierte der EKD-Kirchen:

Er empfindet keine Ablehnung, ärgert sich nicht über Skandale, sagt aber schlicht:
"Ich kann diese Frage nicht beantworten. Ich weiß auch nicht einmal, warum ich nicht Mitglied der Kirche werde. Ich weiß es nicht, weil ich nicht weiß, was mich daran locken sollte...

Ich brauche (...) Kirche für meinen Glauben, für mein Christsein nicht.

Und er schloss sein Votum mit der Rückfrage:

Ich frage mich und ich frage Sie, denn Sie sind die Evangelische Kirche in Deutschland:

Wofür braucht denn die Kirche mich?

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Diese Frage ist mir nachgegangen:
Können wir den Menschen der Postmoderne sagen, wofür wir sie brauchen, wenn sie nicht mehr getaufte Beitragszahler mit der Option auf Dienstleistungen an den Wendepunkten ihres Lebens sein wollen?
Wir sind uns sicher schnell einig: Kirchenmitgliedschaft ist nicht automatisch identisch mit Christwerden - und ein selbstdefiniertes Christsein außerhalb von Taufe und Gemeinschaft hat ebenfalls wenig mit dem Leib Christi zu tun. Aber damit die Sehnsucht nach einer gelingenden Gottesbeziehung, nach der Erfahrung lebendiger Gemeinschaft mit Schwestern und Brüdern entsteht, muss anderes passieren.

Dietrich Bonhoeffer hat, aus dem Gefängnis heraus einen missionarischen Ansatz bei den ungelösten Fragen von Wissenschaft oder von Tod, Leiden und Schuld abgelehnt. Er sagt:

Menschen werden auch ohne Gott mit diesen Fragen fertig, und es ist einfach nicht wahr, dass nur das Christentum eine Lösung für sie hätte (...) Gott ist auch hier kein Lückenbüsser; nicht erst an den Grenzen unserer Möglichkeiten, sondern mitten im Leben muss Gott erkannt werden."

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Wozu braucht die Kirche mich? ist eine Frage mitten im Leben, verkappt dahinter höre ich die versteckte Frage:
Wozu braucht Gott mich – falls es ihn gibt und er ein Interesse an mir hat?
Immerhin heißt es in Jesaja 53 vom messianischen Gottesknecht nicht nur, dass er unsere Krankheiten und Schmerzen getragen hat, sondern auch, dass er die Starken zum Raube haben soll.
Dieser Gottesknecht ist kein Lückenbüßer für offene Fragen, sondern Arzt der Kranken und Gewinner der Starken zugleich.

1. Vitale Kirche

Segeln und erzählen

Wir werden morgen ein Werkzeug für die Entwicklung vitaler Gemeinde kennenlernen, heute geht es um die Grundlagen. Wir wissen aus vielen Untersuchungen, dass sowohl die faktische Reichweite der Kirchen als auch ihre potentielle nur noch wenige Teile der Bevölkerung berührt. Wir haben soz. noch ein Fenster, in dem Menschen erreichbar sind, aber viele von ihnen halten inzwischen Kirche, Glauben und Evangelium für irrelevant.
Parallel mit dieser gewachsenen Entfremdung kämpfen wir als Kirche mit einer inneren Umorientierung, sind belegt mit Finanzen, Gebäuden, Strukturanpassungen. Wir sind also gerade da intensiv mit uns beschäftigt, wo wir mehr denn je um Menschen werben müssten.
Nach Weihnachten ging ich in die Stadt, um Konzertkarten zu besorgen: Ausgerechnet an dem Tag hatte das Musikgeschäft Inventur, war mit sich beschäftigt, ich kam umsonst.
Wenn Menschen unsere Gemeinden als selbstbeschäftigt erleben – tut uns leid, gerade wg. Inventur oder Renovierung geschlossen – dann werden sie sich anderes suchen.

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Dazu kommen die enormen gesellschaftlichen Veränderungen der Postmoderne. Sie hat z.B.
einen veränderten Wahrheitsbegriff:

Wahr ist nicht nur oder zuerst, was richtig ist, sondern wahr, gültig ist erst, was auch wichtig ist.

Eines der postmodernen Axiome ist: Wahrheit gilt nur in Beziehungen – jeder allgemeine, für alle gültige Wahrheitsanspruch steht schon unter Ideologieverdacht.

Darin liegt für uns eine schlechte und eine gute Nachricht.

Schlecht für die Christenheit: Wir sind – bis in die Grundmuster von Denken und Kirchenstruktur – auf Wahrheit gepolt, die zu proklamieren und anzunehmen ist. Das kommt in der Postmoderne nicht gut, denn sie wehrt sich gegen Absolutheiten oder unhinterfragbare Autoritäten.

Gut für uns ist: Wenn eine christliche Grundstruktur „Wahrheit als Begegnung“ (Emil Brunner) heißt, dann kann uns die Postmoderne herausfordern, den Beziehungsanteil der biblischen Wahrheit neu zu entdecken. Beide bibl. Worte für Wahrheit, griech. aletheia (Enthüllung, Aufdeckung ) und hebr. emet (Erfahrene Zuverlässigkeit, Tragfähigkeit) sind Erfahrungsworte.

Das Deutsche kennt gar kein Verb zum Substantiv ‚Wahrheit’ – deshalb ist z. B. eine hebräisch denkende Stelle wie Epheser 4,15 im Deutschen nur schwer zu übersetzen („in Liebe wahrheiten“).

Der gesellschaftliche Veränderungsprozess betrifft vieles: Haltungen, Werte, Gewohnheiten, Lebensstile und Mentalitäten. All dies betrifft uns mehr als uns lieb ist und lässt uns wenig Raum, Umbauschritte nacheinander anzugehen.

Wir sind wie Segler, die während der Fahrt auf dem Meer vieles gleichzeitig bewältigen müssen: neue Segel aufziehen, den Kurs ändern, Lecks abdichten, neue Matrosen anlernen und vieles mehr.
Wir werden im Zuge der Erneuerung einige elementare Haltungen üben müssen, um als Kirche die Relevanz des Evangeliums zu leben.

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Einige Beispiele:

1. Wertschätzend mit Kritik und Suche umgehen

Wir müssen wertschätzender mit Kritik und kritischer Suche umgehen. Auch Christen reagieren zu oft beleidigt, wenn angefragt wird, was ihnen wichtig ist.
In vielen Fällen ist diese Kritik versteckte Sehnsucht – und Kritik ist häufig kostenlose Beratung.

2. Dort sein, wo Menschen ohne Gott leben

Wir müssen uns dort aufhalten lernen, wo Menschen ohne Gottesbeziehung leben. Wie viel Beziehungen habe ich zu Menschen, die suchen oder nicht glauben?
In Gemeinden frage ich: Wie viel Ihrer Zeit verbringen Sie in Gemeinde und Gemeinschaft, wie viel in anderen gesellschaftlichen Bereichen wie Vereinen, Schulen, Betrieben, Stammtischen?

3. Neuer Blick zurück nach vorne

Wir brauchen einen neuen Blick zurück nach vorne. Wir müssen die Bibel in unserer Situation neu lesen auf das hin, was wir bisher aus Gewohnheit übersehen haben. Es gibt biblische Geschichten der Begegnungen in multikulturellen Gesellschaften, im AT die Vätergeschichten, das Exodusgeschehen, Naemans Heilung, Jona, Nehemia. Das NT berichtet Begegnungen Jesu mit Römern, Griechen, mit der Samariterin, der Syrophönizierin, es gibt den Aufbruch des Christentums in den multireligiösen Mittelmeer-raum – all dies müssen wir neu für unsere Situation analysieren, als würden wir es zum ersten Mal lesen. Wir sind in der Situation von Ruderern, sagt Kierkegaard: Nur indem wir zurückblicken, kommen wir vorwärts.

4. Kontakt mit denen suchen, die uns fremd sind

Wir müssen Kontakte mit denen suchen, die uns fremd sind.
Das betrifft z.B. die wachsende Zahl der kirchlich Distanzierten und Unerreichten, die wachsenden Gemeinschaften anderer Religionen, das große indifferente Milieu oder das kleine aber lautstarke atheisierende Milieu.

5. Mit Lust erzählen

Wir dürfen mit Lust Erzähler/innen sein: Das Christentum ist die Erzählung von einem, der Menschen mit Gottes Geschichte zusammen bringt. Diesen Punkt will ich etwas ausführlicher begründen. Die Postmoderne hat die großen Erzählungen der Neuzeit für beendet erklärt und will damit auch das Christentum - neben Marxismus, Aufklärung oder Kapitalismus - hinter sich lassen. Sie ist aber enorm interessiert an den kleinen Erzählungen Einzelner. Kleine Erzählungen aus gelingenden Beziehungen wirken in der Postmoderne einladender als vergangene alte Erzählungen von Macht und Privilegien. Die Leipziger Theologin Gunda Schneider-Flume sagt: Die verfestigten Großbegriffe der Tradition wie Sünde, Rechtfertigung, Schöpfung etc. „sind zu abstrakten Begriffen geworden, die in der Regel nicht mehr verstanden werden“ – sie müssen ‚zerbrechen’ um neu zur Sprache zu kommen.
Erzählen von Gott ist etwas anderes als Reden über Gott. Der Glaube wird sprachfähig, wenn wir Gottes Geschichten in unserem Leben erzählen. Wo Gottes Geschichte in seinen (biblischen) Geschichten gegenwärtig ist, können „die Hörer dieser Geschichten auch heute in Gottes Geschichte verstrickt werden“. Menschen sind fasziniert von einer spannenden Geschichte - und erzählen kann jeder.

Dafür braucht man keine Ausbildung, nur Erfahrungen. Zeugen Jesu sind im NT Berichterstatter: Sie erzählen von den großen Taten Gottes in ihrem Leben, in der Bibel, in der Welt. Der amerikanische Journalist Leon Wieseltier sagt: „Wenn ich der Zeuge bin, dann brauche ich nicht eloquent (=beredt) zu sein.“ Ich muss nicht reden können, sondern berichten. Wenn wir Kontakte haben, Beziehungen aufbauen, können wir Menschen verstehen. Wie macht man das?
Indem man mit ihnen zusammen ist, viel mit ihnen redet, ihre Interessen teilt, das eigene Leben transparent macht und ins Gespräch bringt.
Ein distanzierter Freund ließ sich zu unseren offenen Gottesdiensten einladen. Sie gefielen ihm gut, er kam bald regelmäßig. Nach drei oder vier Predigten sagte er: „Das ist ja gut, aber warum zitierst du immer einen Bibeltext?“ Ja, warum eigentlich? Wir sind es gewohnt, wir wissen warum. „Das ist so üblich“ reicht nicht. Ich muss mir die Mühe machen für einen Neugierigen verständlich zu formulieren, warum die Bibel unsere Vorgabe und Referenz, die Begründung für alle unsere Aussagen ist. Am besten wieder mit einer Geschichte aus meiner Erfahrung, die ich mit seiner Geschichte verknüpfe - und mit den Geschichten dessen, der unsere beiden Geschichten umfängt.

2. Mission

Gott in Bewegung

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Foto: © Priscilla Du Preez / unspash / CCO LIzenz

Einer der tiefsten Texte der Bibel steht in Hosea 11, hier kann man Gottes Herzschlag spüren: „Ich hatte Israel lieb wie einen Sohn, befreite sie aus Ägypten – aber wenn man sie jetzt ruft, wenden sie sich ab und hängen sich an andere Götter und Werte.“ Gott hat eine Enttäuschungsgeschichte mit seinem Volk, Grund genug, sie aufzugeben. Aber dann lässt uns der Prophet einen atemberaubenden Blick in Gottes Herz tun (Hosea 11, 8–9):

"Wie kann ich dich preisgeben, Ephraim, und dich preisgeben, Israel? Mein Herz ist anderen Sinnes, all meine Barmherzigkeit ist entbrannt. Ich will nicht aus meiner Enttäuschung handeln – denn ich bin Gott und nicht ein auf Rache sinnender betrogener Mann."

Wir sehen vielleicht eine schwache Gemeinde, sehen auf unsere Enttäuschungen; viele von uns sind im Tiefsten von sich selber enttäuscht, Sie empfinden ihr Leben über weite Teile als eine Schlaglochstrecke.
Gott hat einen anderen Blick, den Blick der Liebe Gott kommt von seiner Liebe, von seiner Wahl nicht los, obwohl sie eine abgrundtiefe Enttäuschung bedeutet. Er fällt sich quasi selber in den Arm – statt der Vernichtung wird „ein Umsturz in Gott selber“ angekündigt: Gott selber wendet sich gegen seinen Zorn. Hier spüren wir etwas vom Wesen Gottes, hier kommen wir mit der innersten Bewegung in Kontakt:
In Gottes Wesen ist Liebe, die ins Leiden geht, ist Sehnsucht nach dem Geschöpf, die sogar durch Abwendung und Revolte, Widerspruch und Spott, Sünde und Schuld nicht außer Kraft gesetzt werden kann.

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Eines der stärksten Kapitel der Bibel ist da für mich bis heute Lukas 15. Die drei Gleichnisse über Gottes Sehnsucht nach seinem Verlorenen. Das Risiko der Suche eines Hirten, der einen weiten Weg riskiert, die intensivste Anstrengung einer Hausfrau, die das Haus auf den Kopf stellt und nicht aufhört, bis sie gefunden hat und das sehnsüchtige Warten eines Vaters auf seine beiden Söhne. Auf den einen abgehauenen jüngere Sohn und ebenso das demütige Werben um den hart gewordenen Älteren draußen vor der Tür.

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Das ist unser Gott: brennende Liebe zu denen, die sich von ihm abwenden, Bewegung hinter denen her, die ihm weglaufen. Daran beteiligt Jesus uns, seine Nachfolgerinnen und Nachfolger. Am Anfang der Kirche steht in den vier Evangelien und in Apostelgeschichte das Mission-statement von Jesus Christus. Eine Formulierung von Lukas in der Apostelgeschichte 1, 8 einst: »Ihr werdet meine Zeugen sein.« Das ist sogar eine Identitätsaussage für uns als Kirche. Jesus macht dafür eine Vorgabe in Matthäus 28, 18-19: »Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum geht hin, macht sie zu Jüngern, tauft sie und lehrt sie.« Er schenkt uns seine Ermächtigung bei Johannes 20, 21:
>Friede sei mit euch, wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch!

Sie finden in allen Schriften des Neuen Testamentes Wurzeln und Spuren, ich nenne es mal »die missionarische DNA der Kirche«.

Die christliche Gemeinde ist gar nicht zu verstehen ohne diese Sendung: Mission ist Sendung durch Jesus.
Das bis heute bei uns wirkungsmächtigste Konzept von Mission ist das der Mission Gottes, der Missio Dei: Gott handelt an der Welt, wir werden hineingenommen in seine Bewegung der Liebe hin zu seiner Schöpfung. Gott ist der Missionar, wir sind beteiligt an seiner Mission.

Dieses Konzept nimmt einen großen biblischen Kontext auf, es kann trinitarisch Mission als gemeinsame Bewegung von Vater, Sohn und Heiligem Geist ausdrücken, es beinhaltet und vernetzt zugleich den evangelistischen, den diakonischen, den prophetisch-politischen, den seelsorglichen und den Bildungs-Auftrag der Kirche Jesu.

Im Kern dieser Sendung antwortet unser Echo auf die missionarische Liebe Gottes: Gott selber schenkt sich, weil er in sich überströmende Liebe ist.

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Jürgen Moltmann: Deshalb findet Gott „keine Ruhe, bis nicht alle seine Geschöpfe – wie der verlorene Sohn im Gleichnis – in seinen Schoß heimgekehrt sind“

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Die gesamte Schöpfung wird eingeladen, dieser Hingabe Gottes mit ihrem Lob zu antworten. Henning Wrogemann:

Das Ziel der christlichen Sendung ist es demnach, die Verherrlichung Gottes im Lob seiner erlösten Kreaturen zu vermehren.

Für Jürgen Moltmann ist Bezeugung des Evangeliums (Evangelisation) nicht nur „Ausbreitung der Gegenwart in die Zukunft“, sondern vor allem „Antizipation der Zukunft selbst“. Man könnte sagen: Gewöhne dich jetzt schon an deinen zukünftigen Gottesdienst.
Deshalb soll die Mission nicht die Kirche erhalten, sondern das Lob Gottes vermehren – aber indem sie das tut, gewinnt die Kirche ihre Zukunft.

3. Drei Dimensionen von Mission

Mission begegnet Menschen in drei Weisen, auf drei grundlegenden Ebenen, durch drei Elemente ihrer Umsetzung - und das geschieht schon in den ersten Tagen der christlichen Mission in einer pluralen Situation.

1. Proklamation

Mission begegnet Menschen durch Proklamation des Evangeliums: Jede Art der öffentlichen Verkündigung, z. B. in Predigt, durch Einladung zum Glauben in Veranstaltungen, in gedrucktem Wort oder in digitalen Bits. Proklamation elementarisiert Inhalte und ruft zum Glauben.

Verkündigung lädt ein zur Begegnung mit Gott und Akzeptanz des Evangeliums.

Jede Proklamation des Evangeliums steht in der Konkurrenz verschiedenster Wahrheitsansprüche, die Rede von Gottes Liebe in Jesus Christus ist aus sich heraus nicht überzeugender als jede andere Wahrheit. Die antiken Straßen waren voller Straßenprediger, den Medienstars der Antike. Wer erfolgreich auftrat, konnte gut davon leben, er verkaufte den Leuten, was sie gerne hören wollten oder was sie interessierte. Manche boten Philosophie, andere Religion oder Lebenshilfe, einige Esoterik oder Mysterien samt Sex und Orgien, es gab Tricks zum Reichwerden oder zur Entweltlichung.

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2. Kommunikation

Mission begegnet Menschen durch Kommunikation des Evangeliums: Weitergabe in alltäglichen Kontakten, z.B. in Gespräch, persönlichem Zeugnis, Begegnungen, Freundschaften. Kommunikation schafft Kontakte, sie hat Folgen, wo Beziehungen geteiltes Leben wagen. Weitergegeben wird das Evangelium v.a. in Kommunikation unter Menschen. Jesus hat immer die Beziehung gesucht: Er hat Menschen angeredet und berührt, er hat sie gelehrt und geheilt, getröstet und kritisiert, er hat sie berufen, hat sein Leben mit seinen Nachfolgern geteilt. Man kann Jesu ganzes Leben deuten als eine einzige Beziehungsaufnahme Gottes zu seinen verlorenen Kindern. Das hat natürlich das NT geprägt. Fast alle Briefe des NT enden mit einer Grußliste: Da geht es um Kontakte, um Empfehlungen, um Wertschätzung, manchmal auch um liegen gebliebene Mäntel oder gesundheitlichen Rat. Forscher haben diese Grüße entschlüsselt wie Detektive. In Römer 16 z.B. kann man diverse Zentren der Gemeinden in der Millionenstadt Rom nachweisen, es gibt Hausgemeinden von Sklaven, zum Teil mit, zum Teil ohne den Herrn; es gibt Menschen wie Priska und Aquila als antike Mobile, es gibt die Mutter des Rufus, die für Paulus wie eine Mutter war. Warum wird so ausführlich gegrüßt? Diese Alltagskommunikation spiegelt gelingende Beziehungen: Ähnlich wie wir uns im Supermarkt treffen, telefonieren, SMS oder Emails senden, Briefe schreiben, bei Facebook posten, einen Blumenstrauß vorbeibringen, zum Geburtstag gratulieren oder einen Einkauf mit erledigen.
Die Forscher sagen: Diese Alltagsbeziehungen haben den allergrößten Teil der missionarischen Wirkung des Christentums ausgemacht. Dass es am Ende des ersten Jahrhunderts fast überall im römischen Reich kleine christliche Gemeinden gibt, liegt nicht zuerst an Paulus und den anderen Missionaren, sondern vor allem an Herrn Rufus oder Frau Priska, die mit ihren Nachbarn, ihrer Großfamilie und ihren Kollegen gute Beziehungen lebten.
Mikrokommunikation“ nennt das ein Forscher.

3. Attraktionen

Mission begegnet Menschen durch Attraktion des Evangeliums: Die Anziehungskraft gelebten Glaubens, z.B. durch überzeugenden Lebensstil einzelner Christinnen und Christen (Mt 5,16), schöne Gottesdienste, gelebte Gemeinschaft der Gemeinde (Apostelgeschichte 2 – die ‚Körpersprache des Leibes Christi’), soziale Hilfe und Nächstenliebe.
Attraktion weckt Neugier und schafft Offenheit. In der nachchristlichen Gesellschaft Westeuropas ist Attraktion durch glaubwürdige Präsenz einer der wirkungsvollsten Türöffner für das Evangelium. Nur neugierige Menschen wollen mehr hören: Die Apostelgeschichte schildert in den ersten Kapiteln die Attraktivität einer gelebten Gemeinschaft (Apg 2,42-47), weiß aber auch von Zurückhaltung bei Konsequenzen (Apostelgeschichte 5). Die späteren Schriften des NT im beginnenden Gegenwind (z.B. 1. Petrus) zeigen: Viele der neuen Christinnen und Christen konnten nur durch ihren Lebensstil überhaupt andere neugierig machen.
Auch im postchristlichen Westeuropa sind Menschen bereit, an interessanten und relevanten Gottesdiensten teilzunehmen. Die Mitgliedschaftsuntersuchungen der EKD spiegeln:

Gottesdienste werden beurteilt nach guter Verkündigung, zeitgemäßer Sprache, ermutigender Stimmung und gelingender Gemeinschaft.

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Alle Elemente ergänzen sich und wirken aufeinander.

Ausfall oder Unglaubwürdigkeit einer dieser drei Ebenen behindert die anderen oder widerspricht ihnen sogar.

Proklamation ohne Teilhabe oder Gemeinschaft kann in aller Richtigkeit leerlaufen, weil sie keinen Kontakt mehr zum Leben hat.
Kommunikation ohne Inhalte oder gelebte Gemeinschaft bleibt banal, weil Kontakte und Begegnungen ohne das Evangelium keinerlei Lebensveränderung provozieren.

Attraktion ohne Evangelium oder Teilhabe kann Cliquen, geschlossene Gesellschaften hervorrufen, die ihre Programme durchführen, ohne den Auftraggeber erkennen zu lassen.

Zusammengefasst: Die meisten Menschen finden zum Glauben durch verschiedene Elemente, selten bewirkt das ausschließlich ein Element von Mission.

Alles was Begegnung mit dem Evangelium ermöglicht, ist Mission, kann Menschen verändern.

4. Zukunft gewinnen

Aus den Fallen aufbrechen

Ich bin kein Prophet, aber mit aller Vorläufigkeit will ich drei Strömungen nennen, die die Kirche auf allen Ebenen längst erfasst haben.

Alle drei können zur Falle werden – oder zum Aufbruch führen.

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Foto: © Tim Mossholder / unsplash / CCO-Lizenz

1. Strömung

Die erste Strömung ist die Krise.

Ihre Falle haben wir schon benannt:
die kirchliche Selbstbeschäftigung als Krisenreaktion – wir kommen fast nur noch zum Reagieren statt zum Gestalten. Kirche hat permanent geschlossen wg. Inventur.

Um aus dieser Falle auszuziehen, brauchen wir so etwas wie eine ständige Bekehrung zur Welt, nach J. C. Blumhardts berühmten Gedanken von der doppelten Bekehrung: „Der Mensch muss sich zweimal bekehren: vom natürlichen zum geistlichen und vom geistlichen wieder zum natürlichen Leben.“ Ich verlocke Gemeinden zu einer ganz einfachen Frage an ihre Umgebung: „Was können wir für euch hier am Ort tun?“ Wir haben im EKD-Zentrum für Mission in der Region einen Fragebogen der englischen Gemeindepflanzungsbewegung für unsere Situation übersetzt. Engagierte Gemeindeglieder gehen hin zu Schlüsselpersonen am Ort und in der Region, zur Direktorin der Schule, zum Leiter des Polizeireviers, zur Filialleiterin des Supermarktes, zum Bürgermeister – und sie stellen ein paar einfache Fragen. Sie erfragen deren Sicht auf die Entwicklungen u. Probleme des gemeinsamen Umfeldes, fragen nach ihren Wahrnehmungen im Gemeinwesen - und nach ihren Erwartungen an die Gemeinde. Allein schon dass solch ein wertschätzender Besuch stattfindet, kann enorm viel auslösen.

2. Strömung

Die zweite Strömung ist die ständige Ortsbestimmung.

Ihre Falle ist die Nostalgie. „Früher war alles leichter, da gab es noch ...“ - und jetzt bitte eintragen: gewaltige Erweckungen und Prediger, Aufbruch und Innovation, markante Theologie, gesellschaftliches Engagement ... Oder: „Woanders ist der Boden fruchtbarer, hier ist er steinig“. Oder: „wenn wir es nur richtig machen würden, könnten hier die Gemeinden wachsen wie in anderen Erdteilen“.

Wir können dieser Falle nur ausweichen, indem wir unsere Platzanweisung für hier und jetzt annehmen, uns nicht aus unserem Kontext wegträumen. Haushalterschaft in Treue nennt Paulus das in 1. Korinther 4. Aufbruch aus Nostalgie heißt Annehmen der Realität. Dazu gehört Geduld im Kleinen. Dazu gehören Sorgfalt und Qualität in dem, was wir jede Woche machen. dazu gehört Suche nach neuen Wegen, das Gebet um Erneuerung und ein intensiver Austausch mit denen, die in der gleichen Suchbewegung unterwegs sind.

3. Strömung

Die dritte Strömung ist der Umgang mit dem Traditionsabbruch. Immer weniger ist selbstverständlich, immer weniger wird weitergegeben. Weder Tischgebt, noch biblische Geschichte, noch Kirchenmitgliedschaft. Stattdessen finden wir uns auf dem Markt vor: Andere werben, Leute wechseln die Religion, werden indifferent, wollen sich nicht festlegen.

Unsere Falle ist das Bei-sich-bleiben. Seit Jahrhunderten sind wir eine Angebotskirche. Wir – so denken wir – bieten doch viel an: die Glocken läuten, die Schaukästen sind bestückt, Gemeindebriefe werden verteilt, die Homepage ist aktuell. Sie könnten doch kommen, wenn sie wollten.

Aber sie sind alle umworben, von Medien, Lebenshilfe-Konzepten, Weltanschauungen, viel einfach nur vom Konsum und allem, was Langeweile vertreibt. Und wir sitzen da und warten ob jemand kommt? Da sind andere längst unterwegs, nicht nur an den Türen, auch im Internet, in Vereinen und Bewegungen.

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Foto: © Mantas Hesthaven / unsplash / CCO-Lizenz

Lasst uns nicht fragen,

wie geht ES mit der Kirche weiter,

sondern lasst uns fragen,

wie geht ER mit der Kirche weiter.

.
.

Wir dürfen nicht mehr einfach vom Erhalten her denken,

wir müssen zum Gestalten aufbrechen.

Erhalten heißt: Das haben wir doch früher auch gemacht, wie können wir das aufrechterhalten, wer kann’s weiterführen?

Gestalten heißt: Menschen für den Glauben gewinnen.
Jesus hat seiner Gemeinde das bittende Werben mitgegeben. „Wir bitten an Christi Stelle, lasst euch versöhnen mit Gott“, sagt Paulus in 2. Korinther 5. Ich verstehe eine Mission in den Spuren des Jesus von Nazareth als eine kategorial schwache Mission, die eine generelle Abrüstung jeder missionarischen Praxis mit sich bringt. Sie kann nach der Formel aus 2. Korinther 5 nichts anderes als Bitten, aber ausgerechnet für dieses schwache Bitten darf sie mit der Kraft des Geistes rechnen. Analog zu Churchills bekanntem Diktum gesagt: Sie haben recht, Mission ist die schlechteste aller Handlungsformen - abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.

Ich will nicht kleingläubig sein bei dem, was Gott hier mit uns vorhat. Ich will dabei lieber mit Überraschungen rechnen.

Wie können wir das erkennen?
Zum Beispiel durch versperrte Wege, wie in Apostelgeschichte 16. Zum Beispiel durch unerwartete Erfahrung der Gegenwart Gottes (Jakob in 1. Mo 28), oder Gottes Zuspruch: Ich habe viel Volk in dieser Stadt (Apostelgeschichte 18,10), z.B. durch Erkundigungswege: wie ticken die Menschen? Was sind ihre Ängste und Hoffnungen? (vergleich in Apostelgeschichte 17) In Otzenrath im niederrheinischen Tagebau stand ein frustriertes Ortsschild an einem aufgegebenen Ort: Die Kirche auf dem Ortseingangsschild durchgestrichen und mit Stift ergänzt. Gott ist auch schon weg. Anders gelesen könnte es bedeuten, dass die Kirche noch auf der Stelle verharrt, während Gott schon ganz woanders ist. Der katholische Pastoraltheologe Paul Zulehner fordert:

„Statt: Wie geht es mit der Kirche weiter? müssen wir fragen:

Wie geht Er mit der Kirche weiter?

REFERENT/-IN

Hans-Hermann Pompe

Pfarrer, Generalsekretär AMD (Berlin),
Gemeinde-Weg-Begleiter, Horizont-Erweiterer

1983 – 2000 Gemeindepfarrer in Wuppertal, 2000 – 2009
Leiter des Amtes für Gemeindeentwicklung und missionarische Dienste der Rheinischen Kirche, 2009 – 2019 Leiter des EKD-Zentrums für „Mission in der Region“ (Dortmund).
Seit 2019 in Berlin bei der Evangelischen Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung, kurz: midi und
Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Missionarischer Dienste

Meinung

Ulrike Frank

Vorsitzende Kirchengemeinderat

"Weiterhorizont eröffnet uns in unserem Kirchenbezirk neue Horizonte und neue Wege: Weiter zu denken, weiter zu sehen, weiter zu beten, weiter zu glauben und weiter zu gehen MIT und FÜR Menschen in unserer Zeit. Ich packe meinen Rucksack und bin sehr gerne mit dabei, abenteuerliche Wege zu entdecken. "

Meinung

Maike Sachs

Pfarrerin, Mitglied der Landessynode

„Wir sind als Kirche oft mit uns selbst beschäftigt. Wir reagieren auf Veränderungen und wollen gleichzeitig sparen. Das kostet Kraft. Aber was ist mit den Menschen um uns? Verstehen wir sie noch und verstehen sie uns? Da setze ich auf WEITERHORIZONT, auf eine neue Sicht und gute Impulse.“

Meinung

Jörg Stooss

Project Manager, KGR Vorsitzender

In unseren Kirchengemeinden gibt es viele gute Ideen, wie attraktives Gemeindeleben gestaltet werden könnte. Um neue Wege zu gehen und Neues auszuprobieren fehlt oft das Geld.
Mit dem Fond von WEITERHORIZONT können innovative Projekte vor Ort finanziell unterstützt, begleitet und realisiert werden.

Meinung

Norbert Braun

Dekan

"Bei allen Herausforderungen, mit denen wir als Kirche und Gesellschaft konfrontiert sind, brauchen wir eine Perspektive der Hoffnung. WEITERHORIZONT hilft mir, diese nicht zu verlieren, Gottes Verheißungen zu vertrauen und den Mut nicht sinken zu lassen. Denn ER stellt unsere Füße auf weiten Raum."

Meinung

Cornalia Zeifang

Geschäftsführerin, ehem. Vors. KGR & Mitglied Landessynode

"An WEITERHORIZONT gefällt mir, dass es mir Impulse gibt, neu über Kirche und Gemeinde nachzudenken. Warum ist Kirche wichtig? Was ist unser Auftrag? Was sind unsere Aufgaben?
Um über diese Fragen nachzudenken, tut es gut sich auszutauschen, auf Gott zu hören und zu sehen, wie andere Menschen mit diesen Fragen umgehen. Und welche Antworten sie eventuell schon gefunden haben."

Meinung

Michael Karwounopoulos

Dekan

Ich unterstütze „WEITERHORIZONT“, weil ich meine, dass unsere Kirche unbedingt neue Wege gehen muss, um die Menschen unserer Zeit zu erreichen. Aufbrüche waren immer und sind heute noch Lebenselixier der Kirche.

Meinung

Stefan Mergenthaler

Pfarrer

Gottes Möglichkeiten reichen weit über unseren Horizont hinaus. Wenn wir als Kirche nur auf das sehen, was kleiner wird, schränken wir unsere Sicht ein wie in einem schattigen Tal. Das Projekt WEITERHORIZONT soll den Blick heben und Kirche über Strukturen und Entwicklungen hinaus denken, mit Weitblick, im Licht Gottes.

Meinung

Markus Schoch

Prälat

Als Christenmenschen sind wir immer wieder aufgerufen, unseren Blick über uns selbst hinaus zu richten und im Blick auf Gottes Zusage den WEITEN HORIZONT zu entdecken, den Gott uns schenkt. Dabei sind wir sind eingeladen, diejenigen nicht aus den Augen zu verlieren, die unsere Zuwendung besonders benötigen und gemeinsam zu entdecken, wohin Gottes Wege uns führen.